Die Kirchen machen Politik – ist das wünschenswert?

Die Kirchen in Deutschland wollen nicht länger Gegenmacht sein, sie wollen teilhaben an der Macht. Sie wollen Partei nehmen, Klima retten, Faschos bekämpfen. Ist das wünschenswert?

Konrad Adam 02.11.2021, 05.30 Uhr

Eine von der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland in Auftrag gegebene Studie prognostiziert, dass sich die Zahl der Kirchenmitglieder in den beiden Konfessionen bis 2060 halbieren wird.

Östlicher und protestantischer werde das wiedervereinigte Deutschland aussehen, hatte Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR, vorausgesagt. Daraus ist nichts geworden. Östlicher, das lässt sich nicht bestreiten; protestantischer aber gewiss nicht. In Sachsen und Thüringen, Stammlanden der Reformation, sind die Kirchen genauso schlecht, wahrscheinlich noch schlechter besucht als im Westen. Als «Kirche im Sozialismus» hatten sich die Protestanten bei den Machthabern angebiedert, wodurch sie für die einen überflüssig, für die anderen, denen es ernst war mit ihrem Bekenntnis, unglaubwürdig wurden.

Die Wendezeit, in der die Kirchen noch einmal Zulauf gefunden hatten, ist längst vorbei, der Zulauf auch. Er galt den Räumlichkeiten, die Sicherheit vor Erich Mielkes allgegenwärtiger Stasi versprachen, nicht der Botschaft, die dort verkündigt wurde. Inzwischen wird der Magdeburger Dom, der grösste Kirchenbau im Lande, von den Touristen weitaus stärker frequentiert als von Gottesdienstbesuchern. In der Not gehen die Leute in die Kirche, hatte der frühere SPD-Vorsitzende Franz Müntefering einmal gesagt; aber die Not scheint vorbei zu sein, und das bekommt der Kirche schlecht.

Beitrag zum allgemeinen Wohl

Die grossen Kirchenlehrer sind nie müde geworden, die geistliche von der weltlichen Macht zu unterscheiden und ihre Ansprüche zu begründen. Sie konnten sich auf die Geschichte vom Zinsgroschen berufen, in der Jesus von Nazareth die Gläubigen ermahnt, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott zu geben, was Gottes ist.

Dass die Kirche nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hatte, zu politischen Fragen Stellung zu nehmen, blieb davon völlig unberührt. Sonntag für Sonntag hat sie die Menschen daran erinnert, was sich gehört und was sich nicht gehört, und damit einen Beitrag zum allgemeinen Wohl geleistet. Inzwischen gibt sie sich damit jedoch nicht mehr zufrieden. Sie will Politik machen, Partei nehmen, Grenzen sprengen, Klima retten, Faschos bekämpfen, Freunden helfen, Feinden schaden und was dergleichen Ziele mehr sind. Und tut das ja auch, die evangelische, von jeher offen für nationale, sozialistische oder nationalsozialistische Sonderwege, noch hemmungsloser als die katholische.

Die Kirche will nicht länger Gegenmacht sein, sie will teilhaben an der Macht. Deswegen spricht sie nach, was die Politiker ihr vorgesprochen haben, nur etwas salbungsvoller. Wenn dem Staat Spenderorgane fehlen, ist sie mit einem Aufruf genauso pünktlich zur Stelle wie dann, wenn die Regierung Druck machen will auf sogenannte Impfmuffel; das Impfen, das Spenden wird dann zur zeitgerechten Form von Nächstenliebe.

Genauso wie die Obrigkeit meint auch die Kirche, dass sich das Leben im Überleben, im Jahre-Sammeln erschöpft. Sie ist nicht von jener, sondern von dieser Welt und erwartet, dass die Leute tun, was ihnen gesagt wird.

Die Bewohner von Samos, Lesbos oder Kos, deren Familien das Land kultiviert hatten, die ihre Inseln lieben, als ihre Heimat betrachten und in ihren vertrauten Formen erhalten wollen, besitzen nicht nur gleiche, sondern durch Herkommen erworbene, also bessere Rechte als Migranten. Dies halten Bischöfe und Ratsvorsitzende genauso wie Aussenminister und Kommissare mittlerweile für einen verwerflichen Gedanken. Sie singen mit im Chor der Menschenrechtsaktivisten, die den einen das Menschenrecht dadurch erkämpfen wollen, dass sie es den anderen bestreiten, und sehen in jedem, der für die bedauernswerten Inselbewohner ein gutes Wort einlegt, einen Rassisten, Faschisten, Nazi und so weiter.

Als in einer pfälzischen Kleinstadt ein Schutzbefohlener aus Afghanistan seine deutsche Freundin vor aller Augen niedergestochen hatte, war die Empörung gross. Es gab Demonstrationen, die schliesslich auch den Landesbischof auf den Plan riefen. Öffentlich warnte er die Protestanten davor, sich zur Unmenschlichkeit hinreissen zu lassen. Gemeint war damit aber nicht der Messerstecher, gemeint waren diejenigen, die gegen die Mordtat aufbegehrten.

Exodus der Christen

Wie die bekannten NGO wollen die Kirchen nur noch eins, sie wollen retten, besser gesagt: retten lassen, denn auch sie pflegen die Flüchtlinge, die sie auf hoher See aufgefischt haben, so schnell wie möglich an irgendwelche staatliche Instanzen weiterzureichen. Im Grunde will sie niemand haben, auch die Kirchen nicht. Die wollen retten, was in ihrem Jargon so viel heisst wie: acht Milliarden Menschen möglichst gleichmässig über den ganzen Erdball zu verteilen. Gewohnheiten und Befangenheiten, Überzeugungen und angestammte Rechte dürfen da keine Rolle mehr spielen, kulturelle Unterschiede schon gar nicht, weil alle Kulturen, wie uns die Universalisten versichern, gleich sind.

Die meisten Christen glauben das aber nicht. Deswegen fliehen sie in Scharen aus einem Verein, der ihr Vertrauen und ihr Geld dazu benutzt, Propaganda für diese oder jene Partei zu machen. Kernländer des Katholizismus, der Reformation und der Orthodoxie wie Polen, Ungarn oder Griechenland lassen die Kirche Kirche sein und wählen Regierungen ins Amt, die eine restriktive Migrationspolitik verfolgen. Selbst die traditionell einwanderungsfreundlichen Amerikaner haben begriffen, dass Grenzen nicht nur markiert, sondern auch geschützt werden müssen, und schicken Migranten, die sich gewaltsam Zutritt verschaffen wollen, wieder zurück. Die Italiener, die Engländer und die Dänen machen es auch so, sie gehen ihren eigenen Weg, ohne auf ein Hirtenwort aus Rom oder ein Sendschreiben aus Hannover, dem Sitz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), zu warten. Eine Organisation, die ihren Mitgliedern zumutet, Heimat und Herkunft zu verleugnen und selbst bekennenden Terroristen mit Liebe und Gebet zu begegnen, hat als kulturelle Grossmacht ausgespielt.

Systemrelevante Kräfte

Aber der Überbau macht weiter. Solange das Geld reicht, muss er auf den Unterbau, auf Mitglieder und Gemeinden, ja auch keine Rücksicht nehmen; und das Geld reicht allemal, zumal in Deutschland. Mit ihrem riesigen Grundbesitz und Jahreseinnahmen von sechs Milliarden Euro gehören die beiden Grosskirchen zu den systemrelevanten Kräften; das wissen sie und benehmen sich danach.

Als Arbeitgeber, die in ihren Filialbetrieben, der Caritas und dem Diakonischen Werk, Hunderttausende von Mitarbeitern beschäftigen, haben die beiden grossen Landeskirchen Sitz und Stimme in den Gremien der Macht. Ihre leitenden Angestellten geniessen die Vorteile des öffentlichen Dienstes, werden wie Beamte bezahlt und pensioniert, nicht bloss verrentet. Sie sitzen am Tisch der Mächtigen, empfangen sie auf ihren Kirchentagen, sind auf den Parteitagen präsent und fühlen sich dort genauso wohl wie auf der Kanzel.

Ihre Rechnung ist simpel: Die Leute, sagen sie, wollen sich amüsieren, deshalb besuchen sie Partymeilen und begeistern sich fürs Public Viewing. Da kann die Kirche mithalten, schliesslich verwaltet sie das Evangelium, die Frohe Botschaft, und die kann gar nicht froh genug klingen. Sie tut also gut daran, die Gedanken an Alter, Krankheit und Tod zu verscheuchen, die Erinnerung an das blutige Geschehen auf Golgatha erst recht. Eine der Stimmungskanonen, die auf den kirchlichen Events den Ton angeben, hat das auf ihre Art getan, als sie den Karfreitag zum «Friday for future», zum wahren «Friday for future» ausrief. Jetzt darf man auch an diesem Freitag tanzen, vielleicht sogar mit Billigung der Kirche. Und das ist doch ein Fortschritt.

Hinein ins pralle Leben

Das Dilemma des reichen Jünglings, dem es so schwerfiel, sich zwischen der Liebe zu seinen Gütern und der zu seinem Herrn zu entscheiden, macht dieser Kirche längst nicht mehr zu schaffen. Ihre Führungskräfte haben die Aufgabe gelöst – sie dienen beiden. Wenn sie mit ihrem Hofstaat unterwegs sind und ihre Besitztümer mustern, sind sie nicht traurig wie der Jüngling, sondern fröhlich wie Heinrich Bedford-Strohm, der erste Mann der EKD. Er will die Gläubigen nicht mehr in irgendwelche spirituellen Traumwelten entführen, sondern mitten hinein ins pralle Leben. Er setzt aufs digitale Abendmahl, fragt sich, ob Computer segnen können, und überlegt, ob sich Maschinen taufen lassen. Er ist von dieser Welt und hat den Zeitgeist im Rücken. Aber braucht man dazu eine Kirche?

Konrad Adam ist ein deutscher Journalist und Publizist.

Link zum Originalartikel:
https://www.nzz.ch/meinung/die-kirchen-in-deutschland-machen-politik-brauchen-wir-solche-kirchen-ld.1651243