Auf brutale Weise wird ein Lehrer auf offener Strasse hingerichtet. Er wollte seinen Schülern beibringen, was Meinungsfreiheit ist. Der grausame Mord trifft mit der Schule einen Pfeiler der französischen Gesellschaft. Die Freiheit, seine Meinung zu sagen, zu kritisieren, zu ironisieren ist ein fundamentaler Wert der französischen Gesellschaft. Am Freitag wurde ein Lehrer auf brutale Weise getötet, weil er diese Freiheit lehrte.

Der 47-Jährige arbeitete in Conflans-Sainte-Honorine, nordwestlich von Paris. Er hatte in seinem Unterricht Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» gezeigt. So wollte er seinen Schülern die Bedeutung der Meinungsfreiheit näherbringen. Als er sich auf dem Heimweg befand, griff ihn ein bewaffneter Mann auf offener Strasse an und schnitt ihm die Kehle durch.

Was ihn zu seiner abscheulichen Tat motiviert hatte, machte der 18-Jährige tschetschenischer Herkunft auf Twitter deutlich. Er habe einen «deiner Höllenhunde getötet, der es gewagt hat, Mohammed herabzusetzen», lautete die an Präsident Macron gerichtete Nachricht. In welcher Verbindung der Angreifer zu dem Lehrer stand und wie er von dessen Unterricht erfahren hatte, ist bis anhin unklar. Der Mord hat landesweit Entsetzen ausgelöst – und er hat daran erinnert, dass Frankreich den Kampf gegen Radikalisierung und islamistischen Terror noch lange nicht gewonnen hat.

Terroristische Bedrohung bleibt gross

Fast sechs Jahre nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo» und fünf Jahre nach den Anschlägen auf den Konzertsaal Bataclan, auf Bars und Restaurants in Paris ist das Land ein weiteres Mal Opfer einer Terrorattacke geworden. Mehr als 250 Menschen mussten seit 2015 durch islamistisch motivierte Angriffe ihr Leben lassen. Die Bedrohung hat sich über die Jahre hinweg verändert, abgenommen hat sie nicht. Die Angreifer brauchen heute kein internationales Netzwerk und kein grosses Waffenarsenal, um Schaden anzurichten – sie schreiten mit Messern und Beilen zur Tat. Das haben die Ereignisse der letzten Wochen den Franzosen auf schmerzhafte Weise wieder bewusst gemacht.

Ende September attackierte ein aus Pakistan stammender Mann vor dem ehemaligen Redaktionsgebäude von «Charlie Hebdo» zwei Personen mit einem Metzgerbeil und verletzte sie schwer. Auch er nahm für seine Tat die Mohammed-Karikaturen zum Vorwand. «Charlie Hebdo» hatte die Bilder vor kurzem erneut veröffentlicht – anlässlich des Prozesses gegen die mutmasslichen Komplizen beim Anschlag auf die Redaktion. Die Zeitschrift setzte damit ein starkes Zeichen: Sie machte klar, dass sie sich nicht von ihrer Linie abbringen lasse. Nicht durch die erlebte Gewalt und auch nicht durch die anhaltenden Drohungen gegen ihre Mitglieder.

Toleranz lehren 

Die Karikaturen von «Charlie Hebdo» provozieren. Sie können schockieren. Man muss sie nicht gut finden. Aber man muss sie tolerieren. Das wollte der Lehrer aus Conflans-Sainte-Honorine seinen Schülern klarmachen. Dass er dies mit seinem Leben bezahlen musste, hat Frankreich erschüttert. Denn der Angriff richtet sich auch gegen die Schule, jene Institution, deren Aufgabe es ist, die Werte der Republik zu vermitteln.

Zu denken gibt die Frage, ob im jüngsten Fall selbst manche Eltern diese Werte hinter ihre religiösen Überzeugungen zurückstellten. Ein Vater ging besonders weit. Er protestierte heftig gegen die Unterrichtsmethode des Lehrers, erstattete Anzeige und stellte mehrere Videos ins Internet. Darin nannte er die Adresse der Schule, prangerte den Lehrer namentlich an – und machte ihn damit zur Zielscheibe.

«Islamistischen Separatismus» nennt Emmanuel Macron die Haltung eines kleinen, aber radikalen Teils der muslimischen Gemeinschaft, der die Werte der Mehrheitsgesellschaft ablehnt. Erst kürzlich hat der Präsident eine Strategie vorgestellt, die der beunruhigenden Entwicklung in manchen Quartieren gegensteuern und Radikalisierung verhindern soll. Nach mehr als drei Jahren im Amt hat Macron sich damit reichlich Zeit gelassen. Wie dringend die Angelegenheit ist, hat der jüngste Terrorakt wieder einmal gezeigt.

Quelle:  NZZ, CH